Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können?

[ Tue. Sep. 9. 2008 ]

Die Internetzeitschrift " Edge" versammelt in einer legendären Serie Beiträge der renommiertesten Wissenschaftler der Welt - und stellt ihnen unter anderem die Frage: Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können? SPIEGEL ONLINE präsentiert ausgewählte Antworten.

Ich möchte hier auf einen Vorschlag zurückgreifen, den ich bereits 1991 gemacht hatte: Eine dritte Kultur, "bestehend aus den Wissenschaftlern und sonstigen empirisch orientierten Denkern, die mit ihrer Forschungsarbeit und ihren begleitenden Schriften die Rolle der traditionellen Intellektuellen übernehmen, den tieferen Sinn unseres Lebens sichtbar zu machen und neu zu definieren, wer und was wir sind". Das rapide Wachstum des Internets erlaubte es 1997, der dritten Kultur eine eigene Heimat im Netz zu schaffen, mit einer Web-Seite namens Edge .

Albert Einstein: 'Große Geister gelangen manchmal zu Einsichten, bevor sie Beweise oder Argumente dafür haben'
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Albert Einstein: "Große Geister gelangen manchmal zu Einsichten, bevor sie Beweise oder Argumente dafür haben"

Edge ist ein Tummelplatz für die Ideen der dritten Kultur und zeigt die neue Gemeinschaft von Intellektuellen im regen Austausch. Die Beteiligten können dort nicht nur eigene Projekte und Ideen vorstellen, sondern auch die anderer Denker der dritten Kultur kommentieren. Das geschieht bewusst im Geist der kritischen Auseinandersetzung, und daraus ergibt sich eine rigorose, unter Hochspannung geführte, scharfe Diskussion über Grundfragen des digitalen Zeitalters, bei der "eine elegante Argumentation" mehr zählt als tröstliche Weisheit.

Edge präsentiert spekulative Ideen, erkundet Neuland auf den Gebieten Evolutionsbiologie, Genetik, Informatik, Neurophysiologie, Psychologie und Physik. Zu den in diesem Rahmen gestellten Grundfragen gehören: Wo liegen die Ursprünge des Universums? Wo die des Lebens? Und wo die des Geistes? Aus der dritten Kultur gehen neben einer neuen Naturphilosophie auch neue Denkweisen hervor, die viele unserer Grundannahmen darüber in Frage stellen, wer wir sind und was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

DIE EDGE-FRAGE

SPIEGEL ONLINE präsentiert in einer Serie exklusiv ausgewählte Antworten berühmter Wissenschaftler auf die Frage: Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können? Lesen Sie hier alle Antworten...

Eine Sparte von Edge ist The World Question Center, ein 1971 von meinem Mitarbeiter und Freund, dem in Ägypten verstorbenen Künstler James Lee Byars, eingeführtes Projekt der "Begriffskunst". Ich hatte Byars 1969 kennengelernt, als er nach dem Erscheinen meines ersten Buches, "By the Late John Brockman", auf mich zukam. Nicht nur lebten wir beide in der Welt der Kunst, sondern teilten auch das Interesse an Sprache, an den Verwendungsweisen der Frageform und an "den Steins": Einstein, Gertrude Stein, Wittgenstein und Frankenstein. Byars regte mich zur Idee von Edge an und erfand das Motto:

"Um die Grenzen des Wissens auszuloten, muss man die geistvollsten und interessantesten Menschen einladen und in einem Raum versammeln, um sie einander die Fragen stellen zu lassen, die sie sonst nur sich selbst stellen."

DER AUTOR

John Brockman ehemaliger Aktionskünstler, Herausgeber der Internet- Zeitschrift Edgeund Begründer der "Third Culture", leitet eine Literaturagentur in New York und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem: "Leben was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit" (Januar 2009).

Seiner Ansicht nach wäre es einfach töricht, dadurch zu einer Axiologie des gesellschaftlich vorhandenen Wissens gelangen zu wollen, dass man sich durch ganze Bibliotheken liest. (Er selbst besaß in seinem spärlich eingerichteten Zimmer immer nur vier Bücher gleichzeitig, die er in einer Kiste aufbewahrte und stets nach der Lektüre auswechselte.)

Er plante, die hundert besten Köpfe der Welt zusammen einzuschließen, damit sie "einander die Fragen stellten, die sie selbst beschäftigten". Als Ergebnis schwebte ihm eine Synthese allen Denkens vor. Doch lagen zwischen dem Plan und der Ausführung viele Fallgruben. Byars wählte seine hundert Kandidaten aus, rief sie an und fragte, welche Fragen sie sich stellten. Das Resultat: Siebzig von ihnen legten wortlos auf.

Doch 1997 hatten das Internet und die E-Mail gute Voraussetzungen dafür geschaffen, Byars' großen Plan zu verwirklichen, und das führte zur Einrichtung der Web-Seite Edge. Zu den ersten Einsendern gehörten Freeman Dyson und Murray Gell-Mann, die beide auch schon 1971 auf seiner Bestenliste gestanden hatten.

Für jede der acht Jahresausgaben von Edge habe ich mich selbst der Frageform bedient und Autoren gebeten, auf eine Frage zu antworten, die sich mir oder einem von ihnen mitten in der Nacht stellte. Die Edge-Frage von 2005 hatte der theoretisch ausgerichtete Psychologe Nicholas Humphrey vorgeschlagen:

"Große Geister gelangen manchmal zu Einsichten, bevor sie Beweise oder Argumente dafür haben. (Diderot bezeichnete diese seherische Gabe als den 'esprit de divination'.)

Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können?"

Diese Frage öffnete manch einem die Augen (der Sender BBC 4 Radio urteilte, sie wirke "auf phantastische Weise anregend ... stimuliert die denkende Welt wie ein Kokaincocktail"). In den hier gesammelten Antworten liegt der Akzent auf Bewusstsein, auf Erkenntnis, auf Ideen über Wahrheit und Beweis. Wenn ich ihr Gemeinsames benennen müsste, so würde ich sagen, dass sie einen Kommentar dazu bilden, wie wir mit einem Übermaß an Gewissheit umgehen. Wir leben im Zeitalter der Suchkultur, in der Suchmaschinen wie Google uns in eine Zukunft geleiten, in der eine Überfülle an richtigen Antworten mit entsprechend naiven Überzeugungen einhergeht.

Zwar wären wir in dieser Zukunft fähig, die Fragen zu beantworten – aber wären wir auch klug genug, sie zu stellen? Dieses Buch plädiert für ein anderes Vorgehen. Es könnte ja auch völlig in Ordnung sein, sich nicht ganz sicher zu fühlen, sondern nur eine Ahnung zu haben und ihr zu folgen. Wie Richard Dawkins, der britische Evolutionsbiologe, 2005 in einem Interview zur damaligen Edge-Frage sagte: "Es wäre völlig falsch anzunehmen, dass die Wissenschaft bereits alles weiß. Vielmehr tastet sie sich über Ahnungen, Vermutungen und Hypothesen voran, manchmal durch poetische oder gar ästhetische Einsichten inspiriert, und versucht dann, ihre Ideen in Experimenten oder Beobachtungen zu erhärten. Und darin gerade liegt die Schönheit der Wissenschaft – dass sie diese imaginative Phase durchlaufen muss, um anschließend zum Nachprüfen und Beweisen überzugehen."

Im Übrigen zeigt dieses Buch auch, dass Wissenschaftler und andere Intellektuelle über ihren Tellerrand hinausblicken – zwar in ihrem jeweiligen Interessengebiet engagiert bleiben, aber auch, was noch wichtiger ist, gründlich über ein neues Verständnis der Grenzen menschlicher Erkenntnis nachdenken. Sie betrachten Wissenschaft und Technik nicht nur in pragmatischer Hinsicht, sondern auch als ein Mittel, tiefer in die Fragen einzudringen, wer wir sind und auf welche Weise wir zu Erkenntnissen gelangen.

Ich glaube, dass die Männer und Frauen der dritten Kultur die herausragenden Intellektuellen unserer Zeit sind – ohne dies allerdings beweisen zu können.

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