Führende Wissenschafter beantworten die Frage: Was ist Ihre gefährlichste Idee? [1]

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[ Wed. Oct. 21. 2009 ]

Klimawandel? Leben bis 200? Genmanipulation? Nicht unbedingt. Führende Wissenschafter unserer Zeit beantworten die Frage: Was ist Ihre gefährlichste Idee?

Er ist „eine Art Denker, wie es ihn in Europa nicht gibt“, so das Turiner Weltblatt „La Stampa“. Der New Yorker Autor, Literaturagent, Unternehmens- und Politikberater John Brockman, 68, ist ein bunter Hund, ein Querdenker, der es zustande bringt, Menschen und Gedanken unter einen Hut zu bringen, die auf den ersten Blick gar nicht zusammengehören. Eines seiner zahlreichen Bücher trägt den Titel: „Einstein, Gertrude Stein, Wittgenstein und Frankenstein“ (1993). Brockman liebt die Provokation, er ist ein großer Freund der Kunst, der Wissenschaft, der Technik, der Medien und des Internets. Ein intellektueller Katalysator.

Fasziniert von neuen, ausgefallenen Ideen, ist er ein emsiger Networker. Laut seinem Freund Richard Dawkins verfügt er über „das beneidenswerteste Adressbuch in der englischsprachigen Welt“. 1997 schuf er mit der Internetplattform Edge (www.edge.org [5]) eine Art Facebook der Denker, wo Geistesgrößen nicht nur eigene Ideen und Projekte vorstellen, sondern auch die Gedanken anderer kommentieren, „bewusst im Geist der Provokation“, wie Brockman sagt. Nach seinen eigenen Worten präsentiert Edge „spekulative Ideen, erkundet Neuland auf den Gebieten der Evolutionsbiologie, Genetik, Informatik, Neurophysiologie, Psychologie und Physik“ und gibt Antworten auf Fragen wie: Was sind die Ursprünge des Universums, des Lebens, des Geistes? Aus den spannendsten Antworten kreierte Brockman ein Buch, das kürzlich auf Deutsch erschienen ist. Ergänzt um Beiträge österreichischer Top-Wissenschafter veröffentlicht profil Auszüge aus dem Werk mit dem Titel: „Was ist Ihre gefährlichste Idee? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit denken das Undenkbare“, herausgegeben von John Brockman. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. ©: 2009, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 340 S., EUR 10,30.

J. Craig Venter: Neue Genomwerkzeuge statt politischer Korrektheit
Die Technik der DNA-Sequenzierung schreitet immer schneller voran, und wir nähern uns dem Zeitpunkt, an dem es nicht mehr ein paar Humangenomsequenzen geben wird, sondern komplexe Datenbanken mit hunderttausenden und dann Millionen von vollständigen Genomen. Binnen eines Jahrzehnts werden wir rasch die kompletten genetischen Codes von Einzelnen mitsamt ihrem Repertoire an Phänotypen sammeln (…).
Zwar können wir das Verhalten anderer Säugetiere auf Gene und Genetik zurückführen, doch wenn es um den Menschen geht, scheinen wir in die Vorstellung verliebt zu sein, dass wir alle von Geburt gleich sind, dass jedes Baby eine „leere Tafel“ ist. Wenn sich aber Sequenzen von immer mehr Säugetier- und auch Humangenomen ansammeln, werden sie uns (…) zwingen, solche politisch korrekten Deutungen aufzugeben, da die neuen Genomwerkzeuge es erlauben werden, genau zwischen Erbanlage und Umwelteinfluss zu unterscheiden. (…) Die Gefahr liegt in dem, was wir bereits wissen – dass wir nicht alle von Geburt gleich sind –, und eine zusätzliche Gefahr resultiert aus der Fähigkeit, die genetische Seite der Gleichung zu quantifizieren (…).

J. Craig Venter, 63, Entschlüssler des Human­genoms, ist Gründungspräsident des J. Craig Venter ­Institute, das sich mit
synthetischer Biologie befasst.

Paul C. W. Davies: Klimaerwärmung für ein besseres Leben
Einige Länder, darunter die Vereinigten Staaten und Australien, halten daran fest, die globale Klimaerwärmung zu leugnen (…). Andere (…) befürchten das Schlimmste und wollen die Emission der Treibhausgase drastisch reduzieren. Beide Positionen sind irrelevant, da der Kampf aussichtslos ist. Trotz des jüngsten Anstiegs der Erdölpreise ist der Stoff immer noch nicht teuer genug, um ihn nicht zu verfeuern. (…) Die Verfechter drastischer Gegenmaßnahmen drohen damit, dass eine Erderwärmung das Leben verschlechtern würde. Meine gefährliche Idee ist, dass dies wahrscheinlich nicht zutrifft.

Gewiss wird (…) der Meeresspiegel steigen, was zur Überschwemmung einiger dicht besiedelter oder fruchtbarer Küstenregionen führt. Im Gegenzug könnte jedoch Sibirien zum Brotkorb der Erde aufsteigen. (…) Nichts spricht dafür, dass alles schlechter würde – doch zweifellos werden wir uns umstellen müssen, und Umstellungen sind immer schmerzhaft.

Paul C. W. Davies, 63, ist Physiker und Kosmologe an der Arizona State University und Verfasser des Buchs „So baut man eine Zeitmaschine. Eine Gebrauchsanweisung“.

Rodney Brooks: Allein im All und daher religiös
Mir bereitet die meisten Sorgen, ob es nun zutrifft oder nicht, dass der spontane Übergang von der nicht belebten zur belebten Materie höchst unwahrscheinlich sein könnte. Wir wissen, dass er einmal stattgefunden hat, doch was wäre, wenn wir in den nächsten Jahrzehnten viele Beweise dafür zusammenbekämen, dass er ausgesprochen selten vorkommt? (…) Im Sonnensystem allein zu sein, das wäre nicht so erschreckend, aber allein in der Galaxie – oder, schlimmer noch, allein im Universum –, das würde uns wohl zur Verzweiflung und wieder in die Arme der Religion als Trösterin treiben.

Rodney Brooks, 55, leitet das MIT Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory. Er ist Autor des Buchs „Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen“.

Paul W. Ewald: Gesundheit als Todesurteil für Ärzte
Meine gefährliche Idee ist, dass wir fast alle Informationen beisammenhaben, um ein neues goldenes Zeitalter der Medizin einzuleiten. (…) In diesem goldenen Zeitalter müsste es uns innerhalb relativ kurzer Zeit und mit viel weniger Geld als gemeinhin angenommen gelingen, den meisten schweren Krankheiten vorzubeugen. Das klingt doch gut. Warum sollte es gefährlich sein?

Eine Vielzahl von Gefahren erwächst daraus, dass den Status quo infrage stellende Ideen die Existenzgrundlage nicht ­weniger Menschen bedrohen. (…) Stellen wir uns vor, was geschähe, wenn man der großen Gebrechen – Krebs, Arteriosklerose, Schlaganfall, Diabetes und so fort – weitgehend durch Vorbeugung Herr ­würde.

Pharmariesen würden bei sinkender Nachfrage nach verschreibungspflichtigen Medikamenten schrumpfen. Das Ansehen der Ärzte würde nachlassen, weil man sie nicht mehr brauchte, um das Leben zu verlängern.

Paul W. Ewald, 55, ist Evolutionsbiologe und Leiter des Program in Evolutionary Medicine an der University of Louisville. Von ihm stammt das Buch „Plague Time“.

Martin Rees: Wissenschaft als Katastrophe
Meinungsumfragen (zumindest in Großbritannien) zeugen neben einer grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber der Wissenschaft auch von der weit verbreiteten Sorge, dass sie „aus dem Ruder laufen“ könnte. Diese Idee ist gefährlich, weil sie als eine selbst erfüllende Prophezeiung wirken könnte. Im 21. Jahrhundert wird Technik die Welt schneller verändern als jemals zuvor: das Erdklima, unseren Lebensstil, sogar die menschliche Natur selbst. (…) Daher werden die Entscheidungen, die wir einzeln und kollektiv treffen, letzten Endes dazu beitragen, ob sich die wissenschaftlichen Ergebnisse des 21. Jahrhunderts segensreich oder verheerend auswirken.

Sir Martin Rees, 67, ist Präsident der Royal So­ciety, Professor für Astrophysik und Rektor des Trinity College in Cambridge. Eines seiner zahlreichen Bücher trägt den Titel „Unsere letzte Stunde. Warum die moderne Naturwissenschaft das Überleben der Menschheit bedroht“.

Samuel Barondes: Persönlichkeitsver-änderung auf Rezept
In den letzten Jahrzehnten haben sich gewisse Psychopharmaka zu einem weiteren Hilfsmittel für jene entwickelt, die ihr Leben verändern wollen. Ursprünglich als kurzfristige Medikation gegen episodische psychische Störungen wie schwere Depressionen gedacht, verschreibt man sie heute weithin auf Dauer, um gewisse Persönlichkeitsveränderungen herbeizuführen (…). Diese Medikamente wirken direkt auf Schaltkreise im Gehirn ein, die Emotionen steuern, und können so wünschenswerte Entwicklungen in Gang setzen, die durch bloße Willenskraft oder Verhaltensübungen kaum zu erreichen wären. Millionen nehmen sie Jahr für Jahr regelmäßig ein, um ihre Persönlichkeit umzumodeln.

Gleichwohl ist die Idee, solche Medikamente für die Persönlichkeitsveränderung zu benutzen, nach wie vor gefährlich – und nicht nur deshalb, weil es an sich erbärmlich, unmoralisch oder sozial bedrohlich wäre, die Gehirnchemie zu manipulieren (…). Der Grund zur Vorsicht liegt eher darin, dass es noch keine kontrollierten Studien darüber gibt, wie sich solche Substanzen bei Dauergebrauch auf die Persönlichkeit auswirken.

Samuel Barondes, 76, ist Direktor des Center for Neurobiology and Psychiatry an der University of California in San Francisco. Von ihm stammt unter anderem das Buch: „Better Than Prozac. Creating the Next ­Generation of Psychiatric Drugs“.

John Horgan: Der Mensch hat keine Seele
Ich möchte hier näher auf die gefährliche (und wahrscheinlich wahre) Idee eingehen, dass der Mensch keine Seele hat. (…) Bis vor Kurzem bot es sich an, diese Mutmaßung mit einem großen Fragezeichen zu versehen, da es der Hirnforschung noch nicht gelungen war, die Kognition auf spezifische neurale Vorgänge zurückzuführen. (…) Doch jüngst haben sich die Lücken geschlossen, als Neurowissenschafter (…) begannen, den so genannten neuralen Code zu entschlüsseln, das heißt jene Programme, die elektrochemische Impulse im Gehirn in Wahrnehmungen, Erinnerungen, Entscheidungen, Emotionen und andere Grundbausteine des Bewusstseins umwandeln. (…) Wird dieses Wissen uns einmal befreien oder versklaven? Beamte des Pentagons, das weltweit das meiste Geld für die Erforschung des neuralen Codes ausgibt, haben bereits offen erwogen, Cyborg-Krieger zu planen, die über Gehirnimplantate fernsteuerbar wären (…) Wenn sich unser Geist programmieren ließe wie ein Computer, dann würden wir vielleicht schließlich den Glauben an eine un­sterbliche, unantastbare Seele aufgeben – es sei denn, wir würden uns darauf programmieren.

John Horgan, 56, leitet das Center for Science Writings am Stevens Institute of Technology. Sein jüngstes Buch heißt „Rational Mysticism: Spirituality Meets Science in the Search for Enlightenment“.

Peter C. Aichelburg: Zeitreise in die Kälte
Ein Wurmloch ist eine Art Tunnel zu entfernten Gebieten im Universum. Solche Objekte können sich auch als Zeitmaschinen entpuppen, das heißt, das Wurmloch verbindet nicht nur entfernte Gebiete, sondern auch unterschiedliche Zeiten. Ein Objekt, welches dort hineingerät, kommt irgendwo in der Weite des Kosmos wieder heraus, eventuell zu einer früheren Zeit. Sollte die Erde tatsächlich in so ein Wurmloch fallen, würden wir uns auf einmal in einer völlig neuen Umgebung im Universum befinden, da wäre es gut, wenn unsere Sonne gleich mitkäme. Was die Zeitreise betrifft, sollten wir keinesfalls in eine Zeit reisen, zu der es noch keine Sterne gab und das Universum dicht und heiß war, denn das wäre sehr ungemütlich.

Peter C. Aichelburg, 68, emeritierter Physikprofessor und Kuratoriumsvorsitzender des Europäischen Forums Alpbach, forschte an etlichen internationalen Spitzeninstituten. Schwerpunkt: Gravitation und Kosmologie.

Ray Kurzweil: Das Leben wird unendlich
Die Kapazitäten der Informationstechniken verdoppeln sich jährlich und beziehen überdies Bereiche ein, die über das Computerwesen hinausgehen – zum Beispiel die Biologie oder die menschliche Intelligenz. (…) Wir finden auch Mittel, um die ursprünglichen, grundlegenden Informationsprozesse der Biologie umzuprogrammieren (…) Wenn wir linear denken, scheint die Vorstellung, alle Krankheiten und Alterungsprozesse auszuschalten, in der fernen Zukunft zu liegen, wie es auch 1990 beim Genomprojekt der Fall war. Wenn wir dagegen die alljährliche Verdoppelung einrechnen, so liegt die Aussicht einer radikalen Ausdehnung des Lebens nur noch einige Jahrzehnte vor uns.

Ray Kurzweil, 61, ist Erfinder und Technologe. Sein jüngstes Buch heißt „The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology“.

Mihaly Csikszentmihalyi: Der freie Markt vernichtet alles
Eine der gefährlichsten Ideen überhaupt in unserer heutigen Kultur ist die, dass letzten Endes der „freie Markt“ über alle politischen Entscheidungen gebietet und dass es eine „unsichtbare Hand“ gibt, die uns in die vorteilhafteste Zukunft lenkt, sofern man stets den freien Markt zur Geltung kommen lässt. Dieser mystische Glaube ruht zwar auf durchaus soliden empirischen Fundamenten, wenn man ihn jedoch als die endgültige Lösung aller Probleme der Menschheit auffasst, so droht er sowohl die materiellen Ressourcen als auch die kulturellen Leistungen zu vernichten, die unsere Spezies unter großen Mühen geschaffen hat.

Mihaly Csikszentmihalyi, 75, Psychologe, leitet das Quality of Life Research Center an der Claremont Graduate University. Von ihm stammt das Buch „Flow – der Weg zum Glück“.

Josef Smolen: Unwirksame Medikamente
Gegen die rheumatoide Arthritis, eine chronische Gelenksentzündung, die etwa einen von 100 Erwachsenen betrifft und Schmerz, Gelenkszerstörung, Frühinvalidität und verfrühte Mortalität verursacht, sind im letzten Jahrzehnt neue Medikamente entwickelt worden, die so genannten Biologika. Durch sie werden krankheitsauslösende Moleküle oder Zellen zielgerichtet blockiert oder zerstört. Trotz vieler Unterschiede zwischen Biologika ist die Ansprechrate nahezu gleich. Wir wissen nicht, warum.
Derzeit gibt es keine Möglichkeit, den Behandlungseffekt beim Einzelnen vorherzusagen, also individualisierte Therapien zu entwickeln. Dies wäre nur durch Definition prognostischer Faktoren im Rahmen einer exakt vergleichenden, hierarchischen Studie unter Einsatz biologischer Marker möglich. Der Vorteil eines positiven Ergebnisses: „maßgeschneiderte“ Therapien – zum Vorteil der Betroffenen, aber auch des Gesundheitssystems, weil Medikamente bei jenen, denen sie nicht helfen, nicht nutzlos eingesetzt werden müssten. Der Ansatz birgt aber auch eine große Gefahr, die Angst und auch Hilflosigkeit auslöst: Wie geht man mit jenen um, bei denen vorhergesagt wird, dass sie auf keine Therapie ansprechen würden?

Josef Smolen, 59, Internist und Immunologe, ist Leiter der Universitätsklinik für Innere Medizin III an der Medizinischen Universität Wien (MUW) mit Forschungsschwerpunkt entzündliche rheumatische Erkrankungen. Im Vorjahr war er bestpublizierender Professor der MUW.

Georg Wick: Gefährliche Impfgegner
Die Menschheit hat im 20. und 21. Jahrhundert so viele Jahre an mittlerer Lebenserwartung gewonnen wie in den letzten 10.000 Jahren davor. Impfungen haben zu dieser Tatsache wesentlich beigetragen. Impfgegner ziehen mit zumeist irrationalen Argumenten gegen die segensreiche Wirkung dieser immunologischen Erfolgsstory zu Felde. Eine „gefährliche“ Entdeckung unseres Labors könnte bei falscher Interpretation als Beweis für diese schädlichen Aktivitäten herangezogen werden.

Zellen aller Lebewesen – von Bakterien bis zum Menschen – produzieren bei Konfrontation mit Stressfaktoren so genannte Stresseiweißstoffe. Erstmals nach Anwendung von Hitze beobachtet, werden diese Eiweißstoffe auch als Hitzeschockproteine (HSPs) bezeichnet. Die stammesgeschichtlich sehr alten HSPs zeigen in allen Zellen große biochemische Ähnlichkeit. Aufgrund von durchgemachten Infektionen bzw. Impfungen besitzen alle Menschen Immunität gegen mikrobielle HSPs. Wenn wir unser Gefäßsystem klassischen Arteriosklerose-Risikofaktoren wie Bluthochdruck, hohes Cholesterin, Rauchen etc. aussetzen, produzieren die Zellen in der Innenauskleidung der Arterien HSPs. Aufgrund der Ähnlichkeit menschlicher und bakterieller HSPs müssen wir dann für die schon vorhandene schützende Immunität gegen bakterielle HSPs mit einer immunologischen „Verwechslungsreaktion“ gegen unsere eigenen Gefäße „bezahlen“: eine so genannte Autoimmunreaktion. Daran ist aber eben nicht das Immunsystem „schuld“, sondern unsere unnatürliche, die Gefäßzellen schädigende Lebensweise. Wir versuchen nun im Rahmen eines von der EU geförderten Projekts auf Basis dieser Entdeckung einen Impfstoff gegen Arteriosklerose zu entwickeln, gegen die Impfgegner mobilmachen und ein segensreiches Projekt gefährden könnten – eine gefährliche Idee.

Georg Wick, 70, Pathologe und Alternsforscher, war bis 2003 Vorstand des Instituts für Pathophysiologie der Universität Innsbruck und von 2003 bis 2005 Präsident des Wissenschaftsfonds FWF.

Clifford Pickover: Zu viele Welten – oder zu wenige
Unser Wunsch, unterhaltsame virtuelle Realitäten zu erleben, nimmt rapide zu. Da auch unser Verständnis des menschlichen Gehirns rasch wächst, werden wir zum einen fantasierte Realitäten schaffen und zum anderen Erinnerungen, um diese Scheinbilder zu unterstützen. So wird es zum Beispiel eines Tages möglich sein, eine Reise ins Mittelalter zu simulieren, und – um das Ganze realistisch zu gestalten – dafür zu sorgen, dass man sich wirklich im Mittelalter fühlt. Man könnte falsche Erinnerungen implantieren und sie zeitweise die realen überdecken lassen. Das sollte leicht möglich sein, zumal wir den Geist mit der Droge Dimethyltryptamin (DMT) bereits dazu bringen können, reich ausstaffierte virtuelle Welten zu erzeugen, voll mit prachtvollen Schlössern und fremdartigen Fabelwesen. (…)

In Zukunft wird jeder zehn simulierte Leben haben können. (…) Wenn sich dieses Verhältnis von einem realen Leben zu zehn simulierten als repräsentativ für die menschliche Erfahrung erweisen sollte, so bedeutet dies, dass wir derzeit nur eine von zehn Chancen nutzen, wirklich in der Gegenwart zu leben.

Clifford Pickover ist Informatiker am IBM
T. J. Watson Research Center. Das jüngste seiner zahlreichen Bücher trägt den Titel: „Sex, Drugs, Einstein, and Elves: Sushi, Psychedelics, Parallel Universes, and the Quest for Transcendence“.

Lawrence M. Krauss: Wissenschaft, die kein Wissen schafft
Oft wird das höchste Ziel der Physik als eine „Theorie von allem“ beschrieben, die es erlauben würde, sämtliche grundlegenden Naturgesetze auf ein T-Shirt zu drucken (auch wenn es ein solches T-Shirt nur in zehn Dimensionen geben könnte). Seit jedoch anerkannt ist, dass die Hauptenergie des Universums im leeren Raum sitzt – etwas so Eigentümliches, dass es im Rahmen unserer heutigen theoretischen Vorstellungen kaum nachvollziehbar erscheint –, eruieren immer mehr Physiker die Idee, ob die Physik nicht eine „Umweltwissenschaft“ sein könnte, ob die von uns beobachteten Naturgesetze lediglich kontextabhängig gelten und es endlos viele verschiedene Universen mit ganz unterschiedlichen Naturgesetzen geben könnte.

Lawrence M. Krauss, 55, ist Direktor des Center for Education and Research in Cosmology and Astrophysics an der Case Western Reserve University. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Hiding in the Mirror. The Mysterious Allure of Extra Dimensions, from Plato to String Theory and Beyond“.

Michael Freissmuth: Giftmorde
Die eingehende Beschäftigung mit Pharmaka (gut = Arznei; schlecht = Gift) lässt unendlich viele Möglichkeiten erkennen, Menschen zu vergiften. Da blühen Allmachtsfantasien auf: Gegenwehr bei einem Terrorüberfall im Flugzeug – eine Kugelschreiberhülle als Blasrohr mit kleinen Curare-getränkten Nadeln; Kundenbindung bei Getränken und Nahrungsmitteln – durch Manipulation des Belohnungszen­trums mit einem (noch nicht gesetzlich erfassten) Suchtgift; der perfekte Mord – ein Gift, das keine Spuren hinterlässt, weil es eine körpereigene Substanz ist. Die Überprüfung der Realität zeigt: Das ist alles schon da (gewesen) – ohne pharmakologische Beratung. Die rasche Injektion von Kaliumchlorid ist z. B. schon in einem Wiener Krankenhaus praktiziert worden. Als Geschäftsidee ausbaufähig ist ein Service, das DNA-Spuren Unbeteiligter anbietet, um irreführende Spuren zu hinterlassen, z. B. in Lippenstift eingearbeitet. Man kann diese dann strategisch auf Bekennerschreiben platzieren, das Gift in eine Praline stecken und dem Opfer das Gift tatsächlich im Kaffee beibringen. Kaffee eignet sich aus vielen Gründen gut (deckende Farbe, starker Eigengeschmack, …). Daher ein Rat an alle, die einen Giftmord fürchten: kein Kaffee, Rotwein, Whisky, Cognac … Sonstige Tipps: gerne – nach entsprechendem Sponsoring der Forschung am Pharmakologischen Institut der Medizinischen Universität Wien.

Michael Freissmuth, 49, Mediziner (promovierte sub auspiciis praesidentis), mehrfach ausgezeichneter Pharmakologe. Forschungsschwerpunkt: Signalverarbeitung in Nerven- und Krebszellen und deren ­Beeinflussung durch Pharmaka.

Jordan Pollack: Wissenschaft als Religion
Wir Wissenschafter denken gerne, dass wir etwas Besonderes wüssten. Statt Überzeugungen zu pflegen, die auf dem Glauben an unsichtbare allmächtige Götter oder auf überlieferten, von mündlichen Kulturen transkribierten Pergamenten beruhen, besitzen wir die wissenschaftliche Methode, um zu entdecken und zu erkennen. (…) Insofern ist es eine sehr gefährliche Idee, die Wissenschaft lediglich als eine andere Form von Religion zu betrachten. (…) Jüngst betonte bei einem öffentlichen Kongress über Grundprobleme der modernen Technik ein Redner nach dem anderen die Gefahren der Erderwärmung: Anstieg des Meeresspiegels um knapp zwanzig Zentimeter, Überschwemmung von Städten, mehr Orkane der Kategorie 5 und so fort. Es war fast eine Umkehrung der positivistischen Verheißungen einer Techno-Utopie mit wunderbaren Fortschritten in der Medizin, im Computerwesen und im Waffenbau, die eine große Blütezeit der Wissenschaft im späten 20. Jahrhundert erlauben würden. Eine Freundin wies mich darauf hin, dass diese Referenten vor der Einführung von PowerPoint vielleicht Pappschilder mit der Aufschrift „Das Ende ist nahe!“ getragen hätten.

Jordan Pollack, 51, leitet an der Brandeis University ein Forschungslabor für die dynamische und evolutionäre Organisation von Maschinen.

Haim Harari: Demokratie mit Ablaufdatum
Die Demokratie könnte vor ihrem Abgang stehen. Künftige Historiker mögen feststellen, dass sie bloß eine Jahrhundert­episode war: Sie wird verschwinden. Dies ist eine traurige, wahrhaft gefährliche, jedoch sehr realistische Idee (oder besser Prognose). Fallende Staatsgrenzen, grenzüberschreitender Handelsverkehr, miteinander verschmelzende Wirtschaftssysteme, sofortiger weltweiter Informationsfluss und zahlreiche andere Merkmale unserer modernen Gesellschaft tragen allesamt zu multinationalen Strukturen bei. Wenn man diesen unumkehrbaren Trend extrapoliert, so zeichnet sich der ganze Planet als eine politische Einheit ab, in der allerdings die antidemokratischen Kräfte eine klare Mehrheit bilden. Diese wächst heute bereits stetig, bedingt durch demografische Faktoren. Während sämtliche demokratischen Nationen ein schwaches, rückläufiges oder negatives Bevölkerungswachstum aufweisen, vermehren sich die antidemokratischen und ungebildeten rapide. Zudem bleiben in den Ersteren die meisten gebildeten Familien klein, wohingegen die am wenigsten gebildeten sehr kinderreich sind. (…)

Haim Harari, 68, theoretischer Physiker, war Präsident des israelischen Weizmann Institute of Science, leitet das Gründungskomitee für das Exzellenzinstitut I.S.T. Austria in Maria Gugging/Klosterneuburg.

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